Kurzgeschichten

Vorsicht Satire! Ideal, um zwischenmenschliche oder gesellschaftliche Beziehungen und ihre Verwerfungen ad absurdum zu führen. Wenn du außerdem Volksmythen, Rituale und Bräuche aus anderen Kulturen magst, bist du hier genau richtig. Sie inspirieren mich zu eigenen Geschichten und Fantasien. Manchmal sind es aber auch unscheinbare oder alltägliche Begegnungen, die Magisches auslösen. Und mit ein wenig Glück schaffen es vielleicht auch meine Texte dein Herz zu berühren. 

Tagebuch einer Hilflosen (01.02.2022)

Die einzige ununterbrochene Unterhaltung, die ich auf meinem Zimmer in einer psychiatrischen Einrichtung führen kann, ist mit mir selbst. Hier und da meldet sich ein Küchlein oder Fruchtjoghurt zu Wort, um meine Stimmung aufzuhellen, von der ich aber weiß, dass sie mit jedem Pfund auf der Waage mehr noch mehr in den Keller rutscht.

 

Ich habe keine Freunde, die mir zu erzählen hätten, wie wunderbar sie ihr Leben meistern, denn sie sind sehr damit beschäftigt, sich dessen selbst zu vergewissern. Meine Familie unterschätzt mich, daran zu glauben, dass ich am richtigen Ort, zur richtigen Zeit bin. Davon ab traut niemand einer psychisch erkrankten Person zu, einen Preis für außergewöhnliche Leistungen zu erbringen.

 

Think out of the box! Aber geh nicht zu weit raus, damit wir dich nicht aus den Augen verlieren und wohlmöglich noch glauben, wie beschränkt wir sind. Ich tue euch den Gefallen und freunde mich mit Wünschen und Träumen zugunsten eurer Erlasse an. Irgendwie wartet man ja sowieso nur auf den Tag, an dem endlich einer durchdreht, um sich sagen zu können, verdammt bin ich normal.

Janina Stanko

Ich kann mich an kein Kinderbuch erinnern. Man könnte behaupten, dass mir nie jemand etwas vorgelesen hätte. Das stimmt beinahe, denn die Kindergeschichten wurden mir aus dem Gedächtnis vorgetragen. Von meiner Oma, die MS hatte und vom Kopf abwärts gelähmt war. 

Ich blieb am liebsten bei ihr. Dass sie ans Bett gefesselt war und nur ihren Kopf nach links und rechts drehen konnte, tat unserer Beziehung keinen Abbruch. Es waren ihre Worte, die mich überall mitnahmen. Wir schlossen die Augen und erschufen unsere eigene Welt. 

Bevor sie erkrankte, war sie Lehrerin für Polnisch und Mathematik. Als sie noch gesund war, hielt sie Poesiestunden bei sich zu Hause ab. Sie lud Schüler ein, aus denen später Studenten wurden, die immer noch gerne kamen. Sie brachte in mir hervor, wer ich heute bin. Daran habe ich keinen Zweifel. Ich habe nicht nur ihr Lächeln geerbt, ihr Geist lebt in mir weiter. Mein Pseudonym - Janina Stanko - ist der Mädchenname meiner Großmutter. 

Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich mich vergewissern wollte, dass sie körperlich nichts spürt. 

"Kannst du das fühlen?" Ich drückte meinen Zeigefinder auf ihren Unterarm. 

"Nein, ich fühle nichts." 

Ich presse fester.

"Auch nichts."

"Das auch nicht?" Ich berührte sie ganz sanft. Aber auch das half nichts. 

Damals habe ich es nicht verstanden, aber heute weiß ich es ganz genau. Das Gefühl, die Berührung entsteht nicht über den Körper, sondern im Kopf. Es waren ihre imaginären Umarmungen und ihre liebevolle und geduldige Stimme, die mich spüren und wissen ließen, wie sehr sie mich liebte. 

Der Innenarchitekt

An jenem Morgen standen alle meine Arbeitskollegen zwischen vollgepackten Kartons in konzentriertem Aufruhr aufrecht. Anstelle von A. saß ein großstämmiger, blonder Mann am Schreibtisch. "Du verlässt uns?", dämmerte mir beim genaueren Anblick der verstauten Sachen, und ich klammerte mich an meine beiden Taschen. A. schwieg, alle vergruben sich hinter ihren versteinerten Gesichtern. "Ihr Kollege wird in eine andere Abteilung versetzt.", durchbrach der Unbekannte die Frage, wirbelte hoch und machte einen Satz zum nächsten Schreibtisch. "Bitte sortieren Sie alles aus, was Ihnen persönlich gehört!", dirigierte er mit seinen fleischigen Fingern. B. nahm automatisch die erste Pflanze von der Fensterbank und umklammerte sie versunken. Der große Mann drehte sich in seinem gespannten blauen Anzug zu mir herum. "Auch für Sie, ab heute ist Ihr Schreibtisch die Schweiz!", schoss es aus ihm heraus, ohne seinen Kurs zum benachbarten Arbeitsplatz von D. zu verlieren. "Sie wissen, was zu tun ist. Ordnen Sie die Tische so an, wie ich es Ihnen erklärt habe."

Ich stellte die Taschen in meiner Ecke ab und ließ mich in meinem Bürostuhl zurückfallen. "Ich war noch nie in der Schweiz. Wie ist es da so?", versuchte ich ihn scherzhaft zu stimmen. Daraufhin fixierte er mir seinen stahlblauen Augen meine Kollegen, und überließ es ihnen, über mich zu urteilen.

Nach einer Weile waren unsere Schreibtische, Schränke und Fensterbänke von Radios, Ventilatoren, Skulpturen, Gemälden, Kunstkalendern, Lieblingstassen, Familienbildern, Erinnerungsstücken und Glücksbringern bereinigt. Der leere Schreibtisch von A. stand jetzt in der Mitte des Raums, den wir mit unseren gecleanten Arbeitsplätzen umsäumten. Am Ende des Tages trugen wir unsere Habseligkeiten stillschweigend nach Hause. 

Weronika von Tarnica

Teil I

Das sieben Meter hohe Kreuz auf dem Gipfel der Tarnica überstrahlt das Gebirge mit seiner mächtigen Wirkung. Ich frage mich, ob jemals jemand auf die Idee gekommen ist, das Gerüst hinaufzuklettern. Denn es ist mit seinen dicken, gekreuzten Metallstäben geradezu einladend, ein schwebendes Selfie über der Tarnica zu machen und es mit der ganzen Welt zu teilen. Ich wage es nicht, auch wenn es mir in den Fingern juckt und ich hier alleine bin. Auf dem Weg hierhin sind mir nicht viele Menschen begegnet. Ein Touristenmagnet scheint die Gegend also noch nicht zu sein, obwohl die Tafel neben dem Konstrukt an die Pilgerreise des polnischen Papstes Jan Pawel II in seine Heimat erinnert, unter anderem hier in die Bieszczady. Ob er auch wie ich hier auf diesem Punkt gestanden und die unglaubliche Aussicht und Ruhe genossen hat, weiß ich leider nicht, aber die Vorstellung, löst ein magisches Gefühl aus. 

Ich habe mich auf die Wanderung nicht sonderlich gut vorbereitet, als ich gelesen hatte, dass der Aufstieg nicht sehr anstrengend ist und etwa 3,5 Stunden dauert. Ich habe 4,5 Stunden gebraucht. Ich bin aus der Puste, müde und geschafft, aber dennoch glücklich angekommen und nicht von einem Bären oder Wolf gefressen worden zu sein. Ein Gebet zu sprechen, entspricht nicht meinem Habitus, aber an diesem Ort, nach dieser abenteuerlichen Reise erliege ich der meditativen Wirkung. In dieser weiten und breiten Einsamkeit ist es das einzige Gespräch, das erhört wird - sofern man daran glaubt. Aber was bleibt hier einem noch übrig, wenn man nicht einmal mehr daran glauben kann?

"Das Gebet ist die Nahrung der hungrigen Seele.", ertönt eine Frauenstimme und ich erschrecke mich durch das Echo noch heftiger. Eine kleine alte Frau steht wie aus dem Nichts hinter mir. Sie hat ein rotes Tuch mit folkloristischen Ornamenten um den Kopf gebunden sowie einen grauen Filzrock mit einer blauen Wolljacke und einem weißen Hemd an. Ihre bunt gestrickten Socken schmiegen sich um ihre Fußgelenke. Ihre braunen Lederschuhe sehen nicht herkömmlich aus, sondern nach solider Handwerksarbeit. Doch es sind ihre Augen, die mich in ihren Bann ziehen. Ihre Geheimnisse durchströmen mich wie klares, frisches Bergwasser, aber unmöglich auch nur einen Tropfen daraus zu fangen. 

"Guten Tag.", sage ich wie jeder Pole aufrichtig. "Sie haben mich erschreckt." Ihre eingefallenen Mundwinkel biegen sich zu einem Lächeln und sie kommt langsam auf mich zu. Ich habe noch nie so viele Falten auf einmal gesehen. Es ist schwer ihr Alter zu erraten, denn obwohl sie überall feine bis tiefe Furchen hat, wirkt sie wach und agil, schließlich hat sie den 1346 Meter hohen Berg erklommen. 

"Sind Sie von hier?", möchte ich wissen. Sie schaut immer noch an mir vorbei und nickt in die Ferne. Ihr markantes Kinn weckt in mir Kindheitserinnerungen an Baba Jaga. Genauso habe ich sie mir als Kind vorgestellt und viele Illustrationen sprechen das gleiche. Ich bin von meiner Bewunderung über die wahr gewordene Baba Jaga überwältigt und eingeschüchtert zugleich. 

"Ich wohne hier im Wald." Ich kann nicht glauben, was sie da sagt, denn wenn sie tatsächlich den Wald meint, den ich vorhin passiert habe, dann muss sie ein schwieriges Leben führen und sehr hartnäckig sein. Jetzt ist Sommeranfang, warm, der Wald und die Wiesen bringen bestimmt viel Ertrag und dadurch ist alles erträglicher, aber ich mag mir nicht vorstellen, wie es hier im Winter ist. 

"Das ganze Jahr?", frage ich ungläubig.

"Das ganze Jahr.", bestätigt sie ohne Zweifel und schaut mir zum ersten Mal in die Augen. "Wenn Sie wollen, kann ich es Ihnen zeigen?" Es macht mich sprachlos, dass sie mir, einer Fremden, Vertrauen schenkt, wogegen ich mit meiner Angst und Resignation kämpfen muss. Aber mich überkommt eine angenehme Wärme, als ich in ihre geheimnisvollen Augen blicke und stimme dem Ungewissen wie hypnotisiert zu. Sie holt aus ihrer Wolljacke ein rotes Tuch hervor. Es ist das gleiche, das sie trägt. "Sie sollten ihren Kopf besser schützen." Ich nehme das weiche Tuch in meine Hände, falte es zu einem Dreieck und binde es mir schnell um den Kopf. Ich möchte lieber nicht wissen, wie lächerlich ich aussehe und zweifle an dessen Schutz. Sogleich bin ich beschämt, dass sie meine Gedanken erraten könnte.

"Vielen Dank...", ich stocke, da ich nicht einmal ihren Namen kenne. 

"Ich heiße Weronika." Weronika von Tarnica spukt mir durch den Kopf. 

"Sehr angenehm. Ich heiße Helena. Wo geht es lang? Ich folge Ihnen!", sage ich bereit.

"Den Weg bestimmen Sie selbst, Helena." In dem Moment weiß ich nicht, ob mir zum Lachen oder zum Fürchten zumute ist. Doch wie von selbst mache ich den ersten Schritt Richtung Abhang. 

Wüste in uns

Zwischen Gefahr und Verbot, zwischen Elend und Tod wussten wir nicht, wann unser letzter Tag sein würde. Jeden Abend sah ich durch deine blauen Augen und schrieb auf, was sie erlebten. Deine Einsätze waren riskant, dein täglicher Bericht erleichternd, denn er bedeutete, dass du am Leben warst. Ich schrieb meine Angst um dich weg und sortierte deine Gedanken, damit dich dein nächster Auftrag zu mir zurückbrachte. Meine Tränen mischten sich mit dem Salz auf meinen Wangen, als wieder einmal Zivilisten starben. Ich weinte für dich, weil du es nicht konntest. Du musstest stark sein, um deine Mission zu erfüllen. 

Wenn nachts die Sterne leuchteten, konnten wir ruhiger sein. Am Lagerfeuer wärmten wir unsere Herzen mit Tee. Unser Zuhause war weiter weg, als Kilometer zählen konnten. Aber wir vermissten kein Bett oder fließendes Wasser, wir sorgten uns mehr um unsere Familien als um uns selbst. Doch in dieser Nacht war deine Stille lauter als sonst. Ich verstand, dass Reden nicht half; ich setzte mich zu dir.

Deine Falten lagen im Mondschein verborgen. Ich vergrub meine Hände im Sand, deine Hand verschwand in meinen Haaren. Dieses Mal würdest du weitergehen, las ich in deinen funkelnden Augen. Deine Fingerspitzen waren heiß, mein Nacken verschwitzt, als du ihn berührtest. Sie glitten meine Wirbel entlang, sodann ich meinen Brustkorb nach vorne streckte. Mit der freien Hand umklammertest du meinen Busen, der sich sogleich spitzte. Ich ließ mich nach hinten fallen und zog dich mit mir. Unsere Lippen pulsierten, als sie aufeinander trafen, die Körper wollten verschmelzen; wir zogen alles aus, was uns voneinander trennte. Wir gierten nach Geborgenheit und taktierten mit der Lust, schaukelten uns so hoch, wie wir konnten, ich zitterte, du bebtest, bis wir ineinander fielen.

Allmählich füllte sich meine Halskuhle mit heißen Tränen; ich sog dein Leid in mich ein.